Wenn wegen Unwetter alle Züge stillstehen, hunderte Menschen am Bahnhof gestrandet sind und dann nachts genau EIN Zug nach Berlin fährt (wo alle hinwollen), dann bricht eine Stimmung wie in einem apokalyptischen Film aus, wo jeder nur für sich selbst kämpft.
Hier sieht man mich, wie ich große Angst habe, dass mir jemand vom Pöbel im Gang meinen Sitzplatz in der 1. Klasse streitig machen könnte…
Es ist kurz vor drei Uhr nachmittags, ich tippe hektisch auf dem DB-Automaten rum und habe keine Ahnung was ich da tue. Wer ist für die Bedienung dieser Automaten verantwortlich? Und noch viel wichtiger: warum sitzt er nicht im Gefängnis? Mein Zug fährt in fünf Minuten. Die anderen Fahrgäste hinter mir werden langsam maulig. Einer beobachtet mich von der Seite und sagt dann bevor ich auf KAUFEN drücke:
„Entschuldigung, nutzen Sie ihre Bahn-Plus-Punkte? Und wenn nein, könnte ich diese vielleicht auf meine Karte buchen?“
Der Typ spinnt wohl, ich bin froh, wenn ich hier überhaupt noch eine Fahrkarte rausbekomme. Düsseldorf-Berlin, ca. 90€ (mir BahnCard25). Dann renne ich zum Zug.
Der ICE erreicht gerade 200km/h, als ich Hunger bekomme. Wenn im Bahn-Bistro sitze, dann komme ich mir immer vor wie ein Schriftsteller. Dann schaue ich aus dem Fenster und habe einen Roman-Text im Ohr, wie der Autor im Bistro sitzt, vielleicht so vor 100 Jahren, wo Bahnfahren noch etwas besonderes war, die Umgebung und Leute genau beschreibt und gerade auf dem Weg zu oder von seiner Geliebten ist. Gibt es viele Romane aus dem 20. Jahrhundert, wo das ein Motiv ist? Ich meine ja.
Am Vormittag hat ein schlimmer Sturm gewütet, Blitze schlugen ein und Bahnstrecken sind gesperrt.
Wir machen einen langen Umweg, brauchen statt drei Stunden nun fünf Stunden nach Hannover. Die Ansage „Wegen einer Streckensperrung wird unsere Fahrt auf unbestimmte Zeit verzögert“ lässt mich und die spanische Studentengruppe im Zug noch Hoffnung haben, dann heißt es aber:
„Dieser Zug endet hier, bitte alle aussteigen.“
Die Spanier und ich finden: de puta madre.
Es ist mittlerweile 20 Uhr. Alle stürmen zum Infoschalter.
Das ist ja eins der großen Rätsel der Menschheit: Warum stellen sich Menschen an so eine drei Kilometer lange Schlange an dem Infoschalter dann noch hinten an? Was geht in deren Köpfen vor? „Hey, wir müssen heute Abend unbedingt noch nach Berlin! Lass uns da an dieser Schlange anstellen, die so lang ist, dass wir vor Übermorgen sowieso nicht an der Reihe sind!“ Das muss der Herdentrieb sein.
Ich kann es grad nicht fassen, dass ich eventuell in Hannover auf dem Bahnhof übernachten muss und ergebe mich erstmal meinem Schicksal. Vielleicht fährt ein Bus nach Berlin? Ich schländere zum Busbahnhof an der Infoschalter-Schlange vorbei, wo mittlerweile sieben Millionen Menschen stehen. Grad stellt sich wieder ein Pärchen ganz hinten an. Meine Güte. Weiter in der Mitte sehe ich die Spanier.
Am Busbahnhof sind nur ich und noch fünf weitere Reisende und wir schauen uns an und sind stillschweigend stolz darauf, auf diese Idee mit den Bus gekommen zu sein. Wir sind die kleine Elite. Leider fährt der nächste Bus erst in sechs Stunden. Auf dem Weg zurück zum Bahnhof rufe ich bei ein paar Mitfahrgelegenheiten an, da ist dauerbesetzt.
Als ich mir gerade ein Brötchen kaufen will kommt die Ansage:
„Für Reisende nach Berlin steht nun ein Zug auf Gleis neun bereit.“ Es setzt Massenpanik ein. Fünf Millionen von den sieben Millionen Menschen in der Infoschlange setzen sich in Bewegung und rennen zum Gleis. Alle wollen nach Berlin.
Eine Frau aus unserer Elite-Gruppe zerrt mich zum erste Klasse Wagon: „Da können die nichts machen, in solchen Notfällen können wir überall sitzen.“ Während alles in den Rest des Zuges drängt, sind wir in der ersten Klasse noch fast alleine und ich bekomme einen Sitzplatz.
Nach und nach füllt sich auch der 1. Klasse Wagen und ich bekomme langsam ein schlechtes Gewissen; wie ich so mit meinem fetten Arsch in meinen Sessel pupse und da 50 Leute sich auf dem Gang drängeln. Ich stelle mir vor, wie die uns anschauen und sich über uns Privilegierte ärgern. Ein Klassenkampf-Szenario entfaltet sich in meinem Kopf. Ich werde wütend auf den Pöbel und bin bereit alles zu tun, um meinen Sitzplatz zu verteidigen!
„Wenn noch mehr Leute in den Zug einsteigen, können wir aus Sicherheitsgründen nicht abfahren…“,
tönt es aus dem Lautsprecher. Nun gibt es sogar noch eine dritte, völlig unterprivilegierte Klasse. Die wenigen, die garkeine Rechte haben, die auf dem Bahnsteig zurückbleiben müssen. Aber wer entscheidet über das Schicksal dieser Leute? Wer entscheidet: DU KANNST MITFAHREN, UND DU BLEIBST HIER! Ich habe Angst, dass eine weitere Unterklasse mir meinen Sitzplatz streitig machen will.
Mein Kopfkino hat aus dieser Bahnsituation einen apokalyptischen Endzeitfilm gemacht. Es gibt nur begrenzt Ressourcen (Sitzplätze) und heute kämpft hier jeder nur für sich.
Wäre ich auf dem Bahnsteig, ich würde in diesen Zug drängeln, egal was der Schaffner sagt. Fuck Hannover. Die Leute im Gang schauen wieder niederträchtig in unser Abteil. Wir fahren langsam los und wie der Zug den Bahnhof verlässt, sind wir nun auf uns selbst gestellt. Was ist wenn wir auf der Strecke wegen Überfüllung liegenbleiben? Habe ich überhaupt genügend Vorräte?
Nicht dass wir im Notfall einen Fahrgast aus der Unterklassen essen müssen?
Ich greife in meine Tasche und ertaste eine halbvolle Packung gelbe Erdnuss M&Ms. Ich bin fürs erste gerettet.
Ich poste meine Misere auf Facebook. Einige meine Freunde kommentieren, dass sie rund um Hannover auch im Zug feststecken. Das schafft ein Gemeinschaftsgefühl und wir geben uns gegenseitig Tipps, obwohl eigentlich keiner von uns weiß, wie es weiter geht.
Die Fahrt zieht sich hin, ist aber ereignislos. Ich bin so müde und alles tut weh, deswegen lege ich mich im Abteil auf den Boden. Beine unter den Sitzen der anderen. Das sieht nicht total süß aus, denn ich bin keine 9 mehr. Ich sehe aus wie ein Riesenbaby. Außerdem könnte sich jemand von dem Pöbel auf meinen Sitz setzen, während ich schlafe. Aber jetzt ist alles egal.
Als wir in Berlin ankommen stürzt alles aus dem Zug und rennt in die Eingangshalle um sich wieder an der fucking Information anzustellen.
Wieder an die Info? Was stimmt bloß nicht mit diesen Leuten? Es stehen Bahnmitarbeiter bereit und verteilen Wasser und Taxi-Scheine. Verlockend! Es ist mittlerweile 3.15 Uhr.
Es stehen aber schon wieder drei Millionen Leute an der Info. Und mindestens hundertausend am Taxistand.
Ich nehme also den Nachtbus und bin um 3.45 Uhr zu Hause.
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